„Klassisch“ versus „umgedreht“
In einer „klassischen“ Lehrveranstaltung beispielsweise an einer
Hochschule steht die Lehrperson in der Regel vorne an der Tafel oder am
Whiteboard. Die Tische sind frontal ausgerichtet, die Lernenden nehmen
meist im hinteren Teil des Raumes Platz, den Blick nach vorne gerichtet.
Nun kann die Wissensvermittlung starten und in den nächsten neunzig
Minuten hält der Lehrinhalt frontal Kurs. Doch schon an dieser Stelle
ist ein tiefer Einblick in die Lernwelt der Lernenden sowie die Frage
der mediendidaktischen Gestaltung der Wissensvermittlung der Lehrenden
von grosser Bedeutung.
Beim Modell „Flipped Classroom“, in der Hochschule oft auch „Inverted Classroom“ genannt, findet die Wissensvermittlung in Form von zwei Kommunikationsszenarien statt – Präsenzveranstaltung und online-gestützte Lernumgebung. „Die Lernenden eigenen sich die von den Lehrenden digital zur Verfügung gestellten Inhalte“, meist zuhause, eigenständig an (e-teaching.org 2017). In der Präsenzveranstaltung wird die Lehrperson zum Coach und wiederholt die bereits online geteilten Inhalte nicht mehr, sondern sorgt für ein „aktives Plenum“ (Spannagel 2013), indem das Gelernte gemeinsam vertieft, diskutiert und erweitert wird. Die ursprünglich frontale Wissensvermittlung wird „räumlich“ verlagert und somit „umgedreht“.
Die professionelle Kombination von Präsenz- und Selbstlernphasen ist beim Flipped Classroom als ein eigenständiges mediendidaktisches Modell auszuweisen (Reimer & Isaak 2018, S. 188). Diese ermöglicht eine individuelle Ansprache der Lernenden und einen Fokus auf das Lernziel. Alle Teilnehmenden sind in einer online-gestützten Lernumgebung, beispielweise in einem Learning Management System (Moodle u.ä.), persönlich eingeloggt und beschäftigen sich in einer direkten Teilnahme mit dem Inhalt in Form von sogenannten „Learning Nuggets“ (komprimierte Lerneinheiten). Die individuelle Wissensaufnahme (bspw. anhand von Lernvideos) kann dadurch, in einem orts- und zeitunabhängigen Onlineszenario, die Lernmotivation immens steigern und die Teilnahme in den folgenden Präsenzveranstaltungen bewusst aktivieren. Möller (2013) spricht sogar von „durchbrechen einer passiv-resignierenden Grundhaltung“ des Lernenden. Wenn dies geschieht, identifiziert sich der Lernende mit dem jeweiligen Lerninhalt und steuert eigenverantwortlich seinen Lernerfolg an.
Das „umgedrehte“ Lernen
Das Lernverhalten hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Aufnahme
von Informationen geschieht „touchig“ und eilig. In Windeseile zwischen
einem Video-Call oder Instagram-Post wird ein Artikel gelesen, ein
Tutorial (Lernvideo) angeschaut oder einem Tweet gefolgt. All das kann
und darf passieren, solange sich die Lernenden den Lerninhalten aktiv
zuwenden und diese gezielt zu eigenem, d.h. ans Subjekt gebundene Wissen
machen, dies für Unterscheidungen nutzen und entsprechend „sortieren“.
Der effektive Umgang mit dem Lerninhalt kann mit Hilfe von
komprimierten Lerneinheiten („Learning Nuggets“) interaktiv und rasch
aufgenommen werden. Kurze Videos als multimediale Lernformate, zwischen
1-5 Minuten, leiten in eine Thematik ein oder führen beispielsweise
durch komplexe Definitionserklärungen und integrierten Aufgaben. Der
Lernende konzentriert sich selbstgesteuert, in der eigenen Komfortzone,
auf die Inhalte und bereitet sich so auf die nächste
Präsenzveranstaltung vor. In dieser Selbstlernphase wird die
Selbständigkeit des Lernenden in Reflektion, im Verständnis und in der
Kommunikation des Einzelnen gefördert. Genau an dieser Stelle wird
ebenfalls das kooperative Lernen, das sog. „Think-Pair-Share“ (Lyman
1981) aktiviert und geführt. Der Lernende beginnt in der Einzelarbeit
über bestimmte Themen nachzudenken, führt diese Gedanken in einer
Gruppenarbeit weiter und tauscht diese im Idealfall im Plenum
(Präsenzveranstaltung) aus.
In den Ergebnissen des didaktischen Forschungsprogramms im Projekt „Flip your class!“ zeigt das Meinungsbild von Schüler/innen (8.-12. Klasse), in Bezug auf Hausaufgaben und der Flipped Classroom-Idee viele zusagende Stimmen. Ein Grossteil findet „die Idee, die Inhalte zu Hause mit einem Video zu erarbeiten und in der Schule gemeinsam zu üben, sinnvoll.“ (Werner & Spannagel 2018, S. 41ff)
Die Integration von gewohnter Online-Interaktion im Alltag sollte unbedingt in digitale Lehr-/Lernräume eingeplant werden. In einem vertrauten Interaktionssetting, wie surfen oder posten, kann das „organisierte“ Lernen (Studium/Weiterbildung) Spass machen und idealerweise vom Lernenden problemlos bearbeitet werden. Für die Lehre braucht es somit eine lebendige und kluge Kommunikationsebene, welche nicht nur Wissen vermittelt, sondern eine interaktive Lernebene für einen kritischen und reflektierten Austausch bietet. Das Modell Flipped Classroom greift genau an dieser Stelle effizient ein und ermöglicht dazu einen direkten Einsatz der digitalen Medienvielfalt.
Um es mit den Worten von Frederic Vesper (1925-2003) zu sagen:
„Je mehr Arten der Erklärung angeboten werden, je mehr Kanäle der
Wahrnehmung benutzt werden (wie es bei einem multimedialen Unterricht
der Fall wäre), desto fester wird das Wissen gespeichert, desto
vielfältiger wird es verankert und auch verstanden, desto mehr Schüler
werden den Wissensstoff begreifen und ihn später auch wieder erinnern.“ (zit. In Wikipedia.org, Seite „Medienpädagogik“)
Aufwendig komprimiert und klar
Eine sinnvoll komprimierte Darstellung der Lehrinhalte kann zu Beginn
sehr aufwendig sein. Daher fällt es vielen Lehrpersonen schwer, mit dem
Modell Flipped Classroom problemlos zu starten. Der individuelle
Lehrplan sollte, bevor kleine „Schmuckstücke“ als Learning Nuggets
entstehen, einen inhaltlichen Faden über einen bestimmten Zeitraum
bilden. Ob ein Text, ein Film oder eine Grafik die Inhalte formen, kann
eine Komprimierung in Form einer Ankündigung, einer
Grundlagenvermittlung, Definitionserklärung, Zusammenfassung oder
Themenauffrischung erfolgen.
Gerade bei komplexen oder schwierigen Themen kann das Modell unterstützen. Bei der Frage nach Förderung der Interaktion von Lernenden in Lehrveranstaltungen entstehen neue Formate von Lerneinheiten. Daher gilt in erster Linie bei der Erstellung von interaktiven Lernelementen, die Aufmerksamkeit auf die angestrebte Steigerung des Lernerfolgs zu richten. Anhand der angeführten Perspektiven kann eine Wissensvermittlung mit dem Fokus auf den Lernenden und die relevanten Inhalte „päckchenweise“ weitergegeben werden.
Chance oder Hürde
Die Präsenz- und Online-Phasen sollten im Wechsel, je nach Aufgabe und
Zeitmanagement, miteinander agieren und aufeinander aufbauen. Natürlich
steht und fällt das Modell mit der Selbstdisziplin der Lernenden, sich
mit diesen komprimierten Inhalten selbstständig vorzubereiten. „Das kann insbesondere in der Erwachsenenbildung eine große Herausforderung sein. (…) Es ist Aufgabe des Lehrenden, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen (Porcaro et al., 2016;
In: Nimmerfroh 2016, S. 4). Eine angekündigte Vorbereitung kann jedoch
als ein methodischer Aspekt im Ablauf einer „geflippten“ Weiterbildung
fest eingeplant sein. Bevor die Veranstaltung startet, werden alle
Teilnehmenden auf einer Online-Plattform (bspw. einem
Lernmanagementsystem.) mit spezifischen Themen konfrontiert und zur
individuellen Bearbeitung aufgefordert. Der Start einer guten und
nachhaltigen Vorbereitung seitens des Lehrenden ist hiermit gemacht, zu
jeder Zeit sind bspw. Aufgaben, Beiträge, Lernvideos u.v.m. abrufbar und
können wiederverwendet werden.
Im Allgemeinen ist zu beobachten, dass die Ausführungen zum Modell sehr verschieden ausfallen und es noch viel Potential hat, ausprobiert zu werden. Etwas „ungenau“ sind wohl auch jegliche Definitionen von Flipped Classroom, wenn man den Lernenden anschaut. Denn in erster Linie wird der Blick auf die Lehrperson gerichtet, z.B. in welcher Form die Ausgestaltung stattfinden kann. Vielmehr wäre es wichtig die Frage zu stellen: Was an Inhalten braucht der Lernende, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt, um „erfolgreich“ zu lernen?
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QUELLEN
e-teaching.org (2017): Inverted Classroom.
Lyman, Frank T. (1981). The Responsive Classroom Discussion: The Inclusion of All Students. Mainstreaming Digest: University of Maryland, College Park, MD.
Nimmerfroh, Maria-Christina (2016): Flipped Classroom – Der DIE-Wissensbaustein für die Praxis. Bertelsmann Stiftung.
Möller, Clemens (2013): Aktivierung in der Studieneingangsphase. Vortrag im Rahmen der Inverted Classroom Konferenz am 27.2.2013. Philipps Universität Marburg.
Ricarda T.D. Reimer, Sevgi Isaak (2018): Inverted Classroom and nothing Beyond – ein Modell in Kombination und nicht Addition! In: Josef Buchner, Christian F. Freisleben-Teutscher, Johann Haag, Erwin Rauscher (Hrsg.): Inverted Classroom. Vielfältiges Lernen. Begleitband zur 7. Konferenz Inverted Classroom and Beyond 2018; FH St. Pölten, 20. & 21. Februar 2018; Brunn am Gebirge: ikon Verlag; S. 187-192.
Seite „Medienpädagogik“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 19. Dezember 2018, 17:53 UTC.
Spannagel, Christian (2013): Was mache ich eigentlich in der Präsenzveranstaltung? Vortragsfolien.
Werner, Julia; Spannagel, Christian (2018): Ausgewählte Ergebnisse der Begleitforschung. In: Werner, Julia; Ebel, Christian; Spannagel Christian, Bayer, Stephan (Hrsg): Flipped Classroom – Zeit für deinen Unterricht; Praxisbeispiele, Erfahrungen und Handlungsempfehlungen (S. 41-61) Gütersloh: Bertelsmann.
Artikel verfasst von Sevgi Isaak